„O quam mirabilis“ (o wie wunderbar) möchte man rückblickend mit der Antiphon Hildegards von Bingen ausrufen, die am Abend des 7. Juni 2015 vor rund hundert spürbar ergriffenen Zuschauerinnen und Zu-schauern erklang neben vier weiteren Gesängen unserer großen Heiligen.

Rüdiger Heins, der Spiritus Rector des Abends, hatte mit der Sängerin Martina Spies-Gehrig und der Schauspielerin Annette Artus zwei Künstlerinnen gewonnen, die das Publikum zu faszinieren vermochten. Dabei war es die erklärte Absicht des Autors, die modernem Musikgeschmack und geistigem Mainstream so ferne musikalisch-geistlich-poetische Welt der Meisterin vom Rupertsberg in ihrer Aktualität und Nähe, ja sogar als Klang erfahrbar werden zu lassen.

„Vom Klang der Zeit – Hildegard heute“ lautete der Untertitel des Flyers. Wir kognitionsgesteuerten Germanisten betonen ja in der Mittelalterdidaktik eher die Dialektik von Alterität und Identität. Der Rückseite des Flyers konnten wir freilich entnehmen, dass Heins sich seit jeher von Hildegard in besonderer Weise persönlich berührt fühlt; sogar von geheimnisvollen, übernatürlichen Näheerlebnissen erfahren wir dort.

Er hatte diesen Abend unter den zentralen Aspekt der Liebe, um mit Hildegard zu sprechen: der Caritas gestellt, mithin unter ein zeitüberhobenes Ethos und eine ewigmenschliche Erfahrung. Und begann gleich mit dem Verweis auf den Nazarener, der vor zwei-tausend Jahren eine „Revolution der Liebe“ angezettelt habe, stellt diesen Impuls Jesu zugleich in einen großen, globalen, Brahma, Buddha, Dalai Lama, Mohammed einbeziehenden Zusammenhang „der göttlichen Kraft, die den Menschen auf den Weg der Lie-be bringt“. (Wobei sich jetzt in mir der Historiker regt, der weiß, dass Hildegard einen solchen Synkretismus niemals geduldet hätte, und der sich außerdem erinnert an die glühende Beipflichtung Hildegards zum Kreuzzugsaufruf Bernhards von Clairvaux oder an die Todesstrafenforderung gegenüber den Katharern; aber natürlich ist mir bewusst, dass wir alle, selbst die großen Lichtfiguren der Menschheit, aufs Kreuz der  Zeit geflochten sind!)

„O vis aeternitatis“ („O Macht der Ewigkeit, die du in deinem Herzen alles geordnet hast“ , was dann fortgeführt wird: „O quam magna est benignitas Sal-vatoris, qui omnia liberavit per incarnationem suam“, „O wie groß ist die Güte des Erlösers, der alles be-freit hat durch seine Menschwerdung“ usw.) hört man zu Beginn geheimnisvoll den glockenklaren So-pran aus der Tunnelgruft in kühner hildegardischer Gregorianik. Gewissermaßen vom Gesang angelockt steht dann Annette Artus auf dem Hügel vor dem Theaterhalbrund und erzählt in weihevollem Ton die Geschichte ihrer Berufung, ihrer Schau.

Ich kann hier nicht den ganzen Abend Revue passieren lassen, aber der subtilen Gesangskunst Martina Spies-Gehrigs kann man nur Bewunderung zollen, die überm „Orgelton“ der Shruti-Box bzw. des Monochords die herrlich jauchzenden oder klagenden Quinten und Quarten der Antiphonen und Responsorien Hildegards wiedergab. Annette Artus, als Äbtissin des Klosters Rupertsberg im Benediktinerinnengewand, war eine hervorragende Rezitatorin, die mit großer Würde, mit klarer Intonation die visionäre Sprachgewalt der großen Heiligen, implementiert in die Aktualisierungen aus der klugen Feder von Rüdiger Heins artikulierte. Ein großartiger Abend, der in den Zuschauern noch lange nachhallen wird.